Sinnsuche im modernen Leben:
Was uns fehlt und was wir von Hildegard, Ikigai und Positiver Psychologie lernen können
Wir leben in einer Zeit, in der uns so vieles möglich ist wie nie zuvor. Wir haben Zugang zu Wissen, Komfort, Reisen, Technologie und doch spüren viele Menschen eine innere Leere. Es ist, als hätten wir fast alles, nur keinen Grund, morgens mit wirklicher Freude aufzuwachen.
Die stille Krise: Orientierungslosigkeit trotz Freiheit
Früher gaben Religion, Tradition oder Gemeinschaft den Rahmen für Sinn und Identität. Heute sind diese Strukturen brüchig geworden. Das hat uns befreit aber auch verunsichert.
Wir stehen vor unzähligen Optionen: Beruf, Lebensstil, Weltanschauung. Doch je mehr Möglichkeiten, desto grösser die Angst, sich falsch zu entscheiden. Psychologen sprechen hier vom „Paradox der
Wahl“.
Das Ergebnis: Viele von uns fühlen sich getrieben, erschöpft oder leer. Wir haben Wohlstand, aber wir fragen uns: Wofür das alles?
Hildegard von Bingen: Sinn als Lebenskraft
Schon im 12. Jahrhundert hat die Mystikerin und Universalgelehrte Hildegard von Bingen eine erstaunlich moderne Sicht auf Sinn und Gesundheit entwickelt. Für sie war der Mensch nicht getrennt von der Welt, sondern tief eingebunden in Natur, Kosmos und das Göttliche.
Ihr Schlüsselbegriff dafür war „Viriditas“ – die grünende Lebenskraft. Ein erfülltes Leben bedeutet für Hildegard, diese Lebenskraft zu pflegen und zum Erblühen zu bringen. Körper, Geist und Seele bilden ein Ganzes: Ernährung, Musik, Naturverbundenheit, Spiritualität und Gemeinschaft gehören zusammen.
Hildegard glaubte außerdem, dass jeder Mensch eine besondere Bestimmung hat, die er mit Freude und Hingabe leben soll. Sinn entsteht also nicht nur im Grossen, sondern auch im gelebten Alltag ähnlich wie beim japanischen Ikigai.
Ikigai: Ein Schlüssel aus Japan
In Japan gibt es ein Konzept, das genau auf die Frage antwortet: Wofür lohnt es sich zu leben? – Ikigai.
Wörtlich bedeutet es „Leben“ (iki) und „Wert/Sinn“ (gai).
Vier klassische Bereiche
Im Westen wird Ikigai oft als Schnittmenge von vier Bereichen dargestellt:
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Was du liebst
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Worin du gut bist
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Was die Welt braucht
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Wofür du bezahlt werden kannst
Doch im japanischen Alltag meint Ikigai oft etwas viel Einfacheres: die kleine Freude beim morgendlichen Tee, das tägliche Gespräch mit Freunden, die Hingabe an eine Tätigkeit. Es ist weniger das große Lebensziel – mehr das Gefühl, dass mein Leben heute Sinn hat.
Besonders auf Okinawa, einer Insel mit überdurchschnittlich vielen Hundertjährigen, zeigt sich die Kraft dieses Prinzips. Die Menschen pflegen Gemeinschaft, bewegen sich regelmäßig, essen gesund und finden in kleinen Dingen ihr Ikigai.
Fünf Säulen des Ikigai nach Ken Mogi
Ken Mogi beschreibt fünf praktische Säulen, um Ikigai täglich zu leben:
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Klein anfangen – Große Ziele Schritt für Schritt erreichen
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Loslassen lernen – Nicht alles kontrollieren müssen
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Harmonie und Nachhaltigkeit leben – Gut zu anderen und zur Natur sein
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Freude an kleinen Dingen entdecken – Die kleinen Momente genießen
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Im Hier und Jetzt sein – Den Moment bewusst wahrnehmen
Diese fünf Säulen machen Ikigai greifbar: Sinn entsteht nicht erst, wenn wir etwas Grosses erreichen, sondern in kleinen Schritten und Momenten.
Positive Psychologie: Sinn als Grundlage von Wohlbefinden
Die Positive Psychologie beschäftigt sich nicht damit, Krankheiten zu heilen, sondern mit der Frage: Was macht ein gutes Leben aus?
Martin Seligman beschreibt dazu das PERMA-Modell:
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P – Positive Emotionen (Freude, Dankbarkeit, Hoffnung)
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E – Engagement (Flow, ganz in Tätigkeiten aufgehen)
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R – Relationships (tragende Beziehungen)
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M – Meaning (Sinn, Beitrag zu etwas Größerem)
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A – Accomplishment (Ziele erreichen, Fortschritt spüren)
Besonders der Punkt Meaning zeigt, wie zentral Sinn für psychisches Wohlbefinden ist. Menschen, die das Gefühl haben, Teil von etwas Grösserem zu sein, sind widerstandsfähiger, glücklicher und leben gesünder.
Hier berühren sich Ikigai und Positive Psychologie: Beide laden uns ein, Sinn nicht als abstraktes Ziel, sondern als gelebte Erfahrung im Alltag zu verstehen. In Beziehungen, Tätigkeiten und kleinen Momenten der Freude.
Rituale: Sinn spürbar machen.
Rituale verbinden Theorie und Praxis: Sie helfen, Sinn sichtbar und erfahrbar zu machen. Sie sind bewusst, symbolisch und stärken das Gefühl von Verbundenheit und Lebensfreude. Beispiele für wertvolle Rituale:
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Morgenritual – bewusst starten: 5 Minuten Atmen oder Bewegung und eine kleine Intention setzen: „Heute will ich freundlich, aufmerksam oder kreativ sein.“
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Achtsames Essen oder Naturpause: Mindestens eine Mahlzeit bewusst genießen oder 5–10 Minuten draußen im Moment sein.
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Das Freude-Tagebuch: Jeden Tag eine kleine Sache aufschreiben, die Freude oder Stolz gebracht hat – egal wie klein.
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Verbindung pflegen: Bewusst Kontakt zu einem Menschen aufnehmen – ein Gespräch, eine Nachricht oder eine kleine Geste.
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Abendritual – loslassen: Den Tag reflektieren: „Was hat mir heute Freude oder Sinn gegeben?“ Belastendes aufschreiben und symbolisch loslassen.
Einladung zur eigenen Sinnsuche
Sinn ist kein Ziel, das man irgendwann erreicht, sondern ein Weg, den man geht.
Hildegard von Bingen, Ikigai und die Positive Psychologie zeigen: Sinn entsteht in Verbindung, in Hingabe und in der Bewusstheit für kleine
Momente.
Vielleicht kannst du dir heute einmal die Frage stellen:
👉 Was ist mein kleines Ikigai, das mir morgen einen Grund gibt, mit Freude aufzustehen?